Dig Me Out

Heimkehr ins virtuelle Archiv von Gone Home

von Johannes Teschner

„Katie,
I’m sorry I can‘t be there to see you but it is impossible.
Please, please don’t go digging around trying to find out where I am.”

Diese Worte findet die spielbare Protagonistin des 2013 erschienen Adventure Spiels Gone Home an die Haustür des leeren Elternhauses gepinnt. Es ist 1995. Es sind die ersten Worte, die sie von ihrer verschwundenen Schwester erhält und weitere werden folgen. Sie wird sich nicht an die Warnung halten. Sie wird sich im Haus umschauen, jeden Schrank, jeden Abfalleimer, jeden Toilettendeckel untersuchen. Aus den Hinweisen aus Notizzetteln, Rechnungen, Tonbandaufnahmen, Zines und den Riot-Grrrl-Mixtapes legt Katie mit voranschreitender Spielzeit ein Archiv an, das die Rätsel des leerstehenden Hauses, ihrer Familiengeschichte und den Ursachen des Verschwindens ihrer Schwester weiter aufschlüsselt. Auch mit dem Freischalten neuer Areale wie Keller und Dachboden lässt die Entfremdung nach und das Haus wird allmählich wieder zu einem Zuhause. Ständiges Archivieren ist handlungstreibender Faktor im Gameplay-Loop von Gone Home.
Inwiefern schafft es Gone Home, durch die Archivierung von verschiedenen Medien im Virtuellen Raum ein fortlaufendes Narrativ zu konstruieren? Und welche Rolle spielt die nostalgische Aufladung der 1990er Jahre dabei?

Gone Home spielt sich wie ein klassisches Adventure-Spiel, die als „entscheidungskritisch“ beschrieben werden, so Mark Butler. Sie bringen Serien von Entscheidungen mit sich, die das Spielgeschehen beeinflussen und ihm eine variable Dramaturgie geben können. Spieler:innen klicken sich durch verschiedene Räume und sammeln Artefakte. Bei Gone Home gibt es allerdings weder Nebenfiguren, bei denen es sich durch Dialogoptionen klicken lässt, noch filmische Zwischensequenzen. Mit zwei bis drei Stunden Spielzeit ist es ein sehr kurzes Spiel und lässt sich am besten in einer Sitzung durchspielen, als würde man einen Film sehen. Gone Home verlässt sich in seinem Narrativ beinah vollständig auf sein „Environmental Storytelling“ – ein Begriff, den Videospieljournalist Mark Brown in seinem Videoessay „Storytelling in Spaces“ verwendet und der auch von Steve Gaynor, einem Gamedesigner von Gone Home, in einem GDC-Talk aufgegriffen wird. Gaynor beschreibt es so: “It is the Story that the player deduces from the gameworld itself.” Hier steht also das aktive Eingreifen von Spieler:innen in die Dramaturgie im Zentrum anstelle von passivem Zusehen. Oft meint „Environmental Storytelling“ zusätzliche Erzählungen über die Spielwelt, welche anhand kleiner Vignetten erzählt werden, die aber aktiv aufgeschlüsselt werden müssen. Im Sci-Fi Shooter Metroid Prime (2002) zum Beispiel sammelt die Protagonistin Samus Aran durch ihren Scan-Visor Informationen über ihre Gegner:innen, die Beschaffenheit von Planeten und Artefakte der Spielwelt. Diese sind allerdings zum größten Teil optional und dienen lediglich zum zusätzlichen Verdichten der Spielwelt.

Gone Home hingegen macht dieses selbstständige Sammeln und Auswerten von Informationen zur zentralen Gameplay-Mechanik, welche das Narrativ voranbringt. Eine uneingeschränkte Freiheit des Erkundens und Entdeckens existiert allerdings nicht. Die Geschichte von Gone Home hat einen konkreten Start- und Endpunkt und will Spieler:innen auch subtil von A nach B bringen. Das tut das Spiel durch geschickt platzierte Hinweise und die Tonaufnahmen von Katies Schwester Sam, die sich nach dem Einsammeln von besonders wichtigen Informationen automatisch über das Spielgeschehen legen, aber nicht die Kontrolle über Katie blockieren. Vor allem der Grad an Optionalität beim Finden und Auswerten von bestimmten Informationen fällt auf und ist der zentrale Faktor, der den Reiz am Gameplay von Gone Home ausmacht.

Beispielsweise finden Spieler:innen in den Räumen Zettel mit Kombo-Beschreibungen für Street Fighter 2 (1991), einige Super Nintendo Cartridges, Videokassetten, Collagen von prominenten Frauen der 1990er Jahre und Musikzeitschriften. Alle Gegenstände im Raum sind aufgeladen mit dem Zeitgeschehen und einem milieuspezifischen Lebensgefühl der 90er Jahre (siehe auch Abb. 2). Eine collagierte Retro-Aufladung der Räume und Nostalgie, die hier mitschwingt, beschreibt Ulrich Gehmann mit dem Begriff des „Retro-Raums“. Durch den zentralen Faktor Raum im Videospiel und die Geschlossenheit des Hauses in Gone Home bietet sich die Bezeichnung hier an. Retro-Räume schaffen mittels einer Inszenierung von bewusst gewählten Zitaten aus der Vergangenheit diese zu geplanten, vermeintlich „natürlich“ gewachsenen Ensembles zusammenzufügen, so Gehmann. Diese collagierte Retro-Ästhetik findet sich in Gone Home wieder und lädt zum Versinken ein. Gleichzeitig ist es aber auch immer eine selektierte, artifizielle Nostalgie, die kein Zeitgeschehen historisch korrekt abbilden kann. Was Gone Home aber vielleicht auch gar nicht möchte. Denn:

„There is this girl, her name is Lonnie and she gave me this tape. And she said: you have to listen to this.” 

Die Haupthandlung von Gone Home, die es durch Archivierung und Entschlüsselung der Hinweise zu verfolgen gilt, ist die Liebesbeziehung zwischen Katies Schwester Sam und Lonnie. Katie stößt bei ihrer Hausdurchsuchung auf gekritzelte Notizzettel unter der Schulbank, Konzerttickets, Fotos und die zahlreichen Mixtapes, die im ganzen Spiel verteilt sind. Diese Artefakte haben oft Bezug zur Riot-Grrrl-Bewegung in den 1990er Jahren.
Punkmusik und Fanzines von Frauen schufen damals eine öffentliche und empowerende Repräsentation eines „neuen“ Feminismus und eine lebensnahe Identifikation für junge Frauen in den 1990er Jahren. In der Bikini Kills Genre-Hymne „Rebel Girl“ lautet die erste Songzeile: „That girl thinks she’s the queen of the neighborhood.“ Außerdem war die dritte feministische Welle inklusiver als vorherige Bewegungen und schloss queere Identitäten mit ein. Trotz aller allgemeinen nostalgischen Repräsentation von 90er-Jahre-Artefakten fokussiert sich Gone Home speziell auf die Riot-Grrrl Subkultur und die queere Liebesgeschichte zwischen Lonnie und Sam; Repräsentationen, die in breiteren Darstellungen des Zeitgeschehens wahrscheinlich nicht in diesem Umfang stattfinden würden. In der Dramaturgie des Spiels lassen sich mit weiteren freigeschalteten Arealen immer häufiger spezifische Riot-Grrrl-Artefakte wie Zines, Tapes und Poster finden, bis Katie schließlich zum Klimax der Handlung einen Zugang zum Keller und der privaten Zine-Werkstatt von Lonnie und Sam findet. Diese Möglichkeit der selektiven Nostalgie und zeitgeschichtlich-privaten Akzentuierung ist nur im Nachhinein durch die ludologische Verfasstheit von Gone Home möglich. Frei nach Sleater-Kinney:

„TV brings me closer to the world.”

Das virtuelle Archiv wächst mit der voranschreitenden Spielzeit an, aber es unterliegt eben auch stets der Deutung. Jaques Derrida beschreibt es in seinem Vortrag zum Wesen des Archivs so: “The archive is not simply a recording of the past, but also something which is shaped by a certain power, a selective power, and shaped by the future, by the future anterior.” Dies ließe sich einerseits auf das Narrativ innerhalb der Spielwelt anwenden, aber auch auf die Verfasstheit des Spiels als konzipiertes Medium an sich. Die selektive und interpretative Macht der Spieler:innen bzw. der Entwickler:innen bestimmt das virtuelle Archiv. Dadurch dass die Spielfigur Katie aus der Ego-Perspektive gesteuert wird, werden Spieler:innen automatisch stärker in ihre Lage versetzt und werden damit die archivierten Artefakte aus Katies Perspektive wahrnehmen und deuten. Die „Recordings of the Past“, also die Audioaufnahmen von Sam, werden ins Spielgeschehen eingeworfen wie Handlungsfixpunkte. Die restliche Selektions- und Deduktionsarbeit des Archivs wird aus der Perspektive Katies bzw. der Spieler:innen vorgenommen. Auch die räumliche Komponente, auf die Derrida verweist: „Archive is not a living memory. It is a location“ , stärkt die These des virtuellen Archivs in Gone Home. Dabei dient das Haus nicht nur als Videospiel-Level, sondern auch als 90er Jahre Zeitkapsel, als „Retro-Raum“ und gleichzeitig auch als geschlossenes und selektiertes Archiv. Das Archivieren als handlungstreibenden Faktor ist in dieser Form wohl nur im interaktiven Medium Videospiel so umsetzbar, was Gone Home zu einem einzigartigen Archiv macht.

Die reflexive Nostalgie von Gone Home ist mittlerweile um eine Ebene erweitert worden. 2013 erscheint in Videospiel-Jahren fast genauso fern wie die 1990er. Die Kreidetypografie des Logos, die zeitgenössisch-typische Retrogewandtheit (siehe auch Life is Strange, 2015), die grafisch veralteten 3D-Modelle und die Tatsache, dass es sich um ein Low-Budget-Spiel der ersten großen Indie-Welle Anfang der 2010er Jahre handelt, geben dem Spiel eine Doppelvergangenheit und damit auch für eine Zeit, der sich Gone Home damals eigentlich komplett entziehen wollte.

Was bleibt am Ende von Gone Home, wenn das Archiv sich komplettiert? Ein unerwartet wenig gruseliger Dachboden und ein letztes unausweichliches Dokument in einem leeren Raum, nur von einer Schreibtischlampe erleuchtet. Die Schrift „Read Letters to Katie“ ploppt auf und der Abspann beginnt. Sam entschuldigt sich für alles und hofft, dass beide Schwestern sich bald wiedersehen. Nur gerade im Moment nicht, da ist sie zu beschäftigt mit Unterwegs-Sein mit Lonnie. Am Ende von Gone Home steht also ein Happy End, ein Zuhause für Katie und für Sam. Ein „I am where I need to be“, das alles zu sagen scheint.
Gone Home bleibt ein virtuelles Archiv, ein Retro-Raum aus 90er Jahre Sub- und Popkultur, der zum aktiven Erforschen einlädt, bis man sich dort ganz zuhause fühlen darf. Inwiefern das nur verkitschte Nostalgie ist? Nun, Bratmobile singen schon 1993:

“Weren’t those the good old days?“

Johannes Teschner lebt in Offenbach und auf Ebay Kleinanzeigen. Er veröffentlicht Texte in verfallenen Kollektiven und existierenden Anthologien. Für die Sprosse schreibt er, weil er findet, dass der Pflanzen-Starter immer schon unterrepräsentiert war.