Kennen wir uns? Postmoderne Architektur im Anime Pokémon Indigo League

von Louisa Scherer

© Tjark Heitmann

Schwarzer Bildschirm, dann lila Galaxis. Ein rosa Wesen gleitet durchs Weltall, dazu plötzlich E-Gitarre, schneller Schnitt und: „Ich will der Allerbeste sein.“ Das sind weitverbreitete Zeilen. Glaubt man YouTube Kommentaren, sind sie absoluter Kult.
(„20 Jahre und Ich bekomme immer noch Gänsehaut“)

Für mich erstmal Neuland. Anfangs scheint mir dieses Intro befremdlich und reizüberflutend, genau wie der dazugehörige Anime. Pokémon Indigo League heißt die erste Staffel. Zwischen 1997 und 1999 erschienen, spielt sie im selben Universum, dem auch die Pokémon Gameboy-Spiele und das Pokémon Trading-Card-Game, der Pokémon-Manga und die Pokémon-Sammelfiguren, sowie nicht zuletzt die Pokémon-Badezusätze entstammen.

Um die Jahrtausendwende erreicht das Medien-Franchise, zumindest in Deutschland, wohl den Höhepunkt seiner Beliebtheit – samt ARD-Doku über pokémonsüchtige Kinder und Gameboy-Verbot im Kindergarten. In dieser Doku fällt auf, wie unverständlich die Begeisterung der Kinder über die „Taschenmonster“ für Erwachsene ist. „So ein Gameboy ist klein und die Dinge, die darin passieren, sind für Erwachsene undurchschaubar“.

Mittlerweile selbst erwachsen, ist auch mein Wissen über Pokémon in den letzten zwanzig Jahren sehr vage geblieben. Und doch haben sie mich gekriegt. Besser spät als nie, könnte man sagen, und es dabei belassen. Aber ich möchte noch nicht, es soll noch ein bisschen weiter gehen, meine Begeisterung ist wohl groß genug, um andere damit behelligen zu wollen. Ein gutes Zeichen, vielleicht schaffe ich es, die OG-Pokémon-Fans mit meinem Beitrag nicht zu verprellen. Denn man könnte auch sagen: Ich bin zwar nicht wirklich da, wo keiner vor mir war, aber ich kenne die Gefahr.

Was ist also ist passiert, wie wurde aus dieser Verwirrung Begeisterung – noch dazu Begeisterung für einen Anime, dessen Zielgruppe eher jünger ist als 6 Jahre, und dessen mit Abstand interessantester Charakter ein kniehoher, gelber Nager ist, der (bis auf den eigenen Namen in den verschiedensten Variationen) nicht sprechen kann?
Abgesehen davon, dass Pokémon auf allen Gefühlsebenen ballert – Tränen, Wut, Angst, you name it – ist es das dem Worldbuilding der Serie innewohnende Vertrauen auf eine buntere Welt, das mich abholt. Die Welt von Ash, Misty, Rocko und Pikachu ist tendenziell futuristisch: Es gibt portable Taschencomputer (Wow!) und fabelwesenähnliche Haustiere werden bequem in Plastikbällen transportiert (Doppelwow!). Geht es dem Pokémon schlecht, kann man es über Nacht im Pokémon-Center abgeben und BÄM, geheilt. Alles halb so wild, das wird schon wieder. Neben diesen Pokémon-Centern hat jede Stadt des Pokéversums ein weiteres Herzstück, die kathedralenähnlichen Pokémon-Arenen. Beide Gebäudetypen beruhen auf Konzepten, die in der Realo-Welt unmöglich wären. Und doch sind es gerade sie, die vor allem auf architektonischer Ebene eine Brücke vom Fiktiven zum Realen bilden. Let me explain.

Mitte der 1960er Jahre bildete sich eine architektonische Strömung, allgemein als Postmodernismus bezeichnet, die, wie der Name schon andeutet, die reduzierte Formensprache der Moderne hinter sich lassen wollte. Aus „Form follows function“ wurde „Less is a bore“. Die neue Formensprache war verspielt, oft bunt, setzte auf Materialmix und griff auf klassische Elemente der Baudekoration zurück, die außerhalb des gewohnten Kontexts neu interpretiert werden sollten. Soweit die Idee.
Besonders in den 80er und 90er Jahren entstanden so kuriose bis obskure Bauwerke. Was heute im Alltag davon übriggeblieben ist? Dem Gefühl nach vor allem die unzähligen Glaspyramiden und dekorativen Metallstreben in und an Verwaltungsgebäuden in jeder deutschen Stadt. Nicht unbedingt schön, aber vertraut.

Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel, denn es gibt sie natürlich, die seltenen shiny Exemplare der postmodernen Architektur. In Frankfurt sind das bekannterweise das Museum für Moderne Kunst, oder die Häuserreihe in der Saalgasse, die etwas versteckt zwischen Schirn und Main liegt. Zu meinen persönlichen Favoriten gehören die Isle of Dogs Waterpumping Station in London, oder der Kindergarten Wolfartsweier, der aussieht wie eine Katze. Miauz-Genau. Vor allem diese letzten beiden Tempel der Verwaltungsarchitektur könnten genauso gut Arenen oder Center in Pokémon Indigo League sein, denn vergleicht man sie mit den Gebäuden aus dem Anime, fällt es nicht schwer, Parallelen festzustellen. Die Farben sind bunt, Dekorelemente beziehen sich auf den Zweck des Gebäudes, die Fassade besticht durch konsequenten Materialmix.

Und so entsteht gleichzeitig der Eindruck, dass der Metallrahmen, der die Arena von Marmoria City mit einem dekorativen Giebel versieht, oder die Beton-Glas-Fassade des Pokémon-Centers so oder so ähnlich auch in jeder deutschen Kleinstadt stehen könnte. Sie sind vertraut, auch wenn man sie vorher noch nicht gesehen hat.

Um die Jahrtausendwende erreicht das Medien-Franchise, zumindest in Deutschland, wohl den Höhepunkt seiner Beliebtheit – samt ARD-Doku über pokémonsüchtige Kinder und Gameboy-Verbot im Kindergarten. In dieser Doku fällt auf, wie unverständlich die Begeisterung der Kinder über die „Taschenmonster“ für Erwachsene ist. „So ein Gameboy ist klein und die Dinge, die darin passieren, sind für Erwachsene undurchschaubar“.

Schaut man also im Jahr 2021 Pokémon Indigo League, vielleicht zwischen weiß-grauen Neubaublocks sitzend, dann bekommt man Vertrautes in Kombination mit buntem Zukunftsglauben. Hat das was mit Nostalgie zu tun, wenn man das geil findet? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Eine bisschen Sehnsucht nach vergangenen Zukunftsvisionen schwingt mit, aber auch einfach die nerdige Freude an bunten Häusern.
Inzwischen gefühlt bei Folge Dreihundert angelangt, weiß ich auch, dass das rosa Wesen aus dem Intro ein Mewtwo ist – und ich kann den Text auswendig. In diesem Sinne: Komm, schnapp sie dir.

Louisa Scherer studiert in Frankfurt nicht Theater-, Film-, und Medienwissenschaften, aber verstrickt sich trotzdem gern in Diskussionen über Popkultur. Für die Sprosse schreibt sie, um andere mit ihrem Interesse für PoMo Architektur und Popkultur der späten 90er-Jahre zu behelligen.