Das Albumcover auf YouTube

von Patrick Kokoszynski

Ich öffne meinen Browser und rufe Youtube auf. Da ich mit meinem Google-Profil eingeloggt bin, begrüßt mich die Startseite mit einigen Videos, die auf der Basis meiner Interessen algorithmisch ausgewählt wurden. Neben Videoessays und Beiträgen zu Filmen, Games und Self-Improvement findet sich dort auch eine Reihe von Albumcovern. Manche davon kenne ich schon, andere hingegen sind mir noch unbekannt und sehen vage verheißungsvoll aus. Gut möglich, dass ich sie anklicken werde. Nochmals andere habe ich noch nie gehört und will sie auch nicht hören, bekomme sie aber trotzdem immer wieder angezeigt. Als Fan eines bestimmten Genres oder Sounds bekommt man unweigerlich bestimmte Alben empfohlen, die – so darf man mutmaßen – eine Art Querschnitt aus dem Geschmack zahlloser anderer Menschen mit ähnlichen Vorlieben bilden. Fans von Jazz und Weltmusik werden aufgefordert, Gabor Szabos Album Dreams (1968) oder Takashi Kokubos Oasis Of The Wind II (1994) zu hören. Freunde plätschernder Elektronik bekommen Mort Garsons bizarres Album Plantasia (1976) empfohlen, das ursprünglich dafür bestimmt war, Pflanzen beim Wachstum zu helfen. Metal-Fans hingegen wurden im letzten Jahr bei jedem Besuch auf Youtube vom hinterhältigen Grinsen des Skeletts auf dem Cover von Kanonenfiebers Menschenmühle (2021) angelacht. Klicke ich schließlich auf ein Cover, das mich anspricht, erscheint es groß im Videofenster. Die Empfehlungen von der Startseite sortieren sich ausgehend von dem angeklickten Release neu und erscheinen rechts als Balken.

Aus dem Kosmos der Empfehlungen und algorithmischer Querverweise gibt es auf Youtube kein Entkommen. Das Durchstöbern von Kisten im Plattenladen ist ersetzt, durch das Scannen der Empfehlungsbalken, der blitzschnellen Analyse von Albumcovern und der Kalkulation, ob man im Fall des jeweiligen Albums mit der Allgemeinheit übereinstimmen wird, deren kollektives Klickverhalten diese Verkettung musikalischer Artefakte hervorgebracht hat – oder ob vielleicht gerade die Popularität des jeweiligen Albums ein Indikator dafür ist, dass man es selbst nicht mögen wird. Hinsichtlich der entspannten Klänge exotisch angehauchter Jazz-Musik scheint mein Geschmack mit dieser konstruierten Öffentlichkeit übereinzustimmen. Bei Metal bin ich wählerischer und weigere mich seit Monaten, Menschenmühle die Beachtung zu schenken, die die Metal-Community auf Youtube ihr offenbar zukommen lässt.

In der Zirkulation von Pop-Musik im Internet nimmt Youtube eine zentrale, jedoch schwierig zu bestimmende Position ein. In den späten 00er und frühen 10er Jahren, als die Plattform begann, eine immer wichtigere Rolle in der Architektonik des heutigen Internets einzunehmen, war Youtube ein Zentrum der unkontrollierten Ströme mehr oder weniger illegalen Tauschs urheberrechtlich geschützten Materials. Bald traten Algorithmen in Kraft, die geschütztes Tonmaterial erkannten und das Video daraufhin in bestimmten Ländern sperrten. Mit der Legalisierung des Musikstreamings durch Spotify wurde auch das Streaming via Youtube normalisiert und monetarisiert. Youtube bzw. Google hat sich durch die Premium-Variante Youtube-Music sogar als Akteur auf dem Musikstreamingmarkt positioniert.
Dennoch ist der Status von Musik auf der Plattform alles andere als eindeutig. Zwar benutzen die Major- und Indie-Labels die Plattform standardmäßig zur Distribution ausgewählter Singles und oft auch „Full Album Streams“, aber im Kontext des auf Bewegtbilder ausgerichteten Interfaces von Youtube wirken Uploads von Alben noch immer seltsam deplatziert. Der Tonträger ist nicht in einzelne Tracks unterteilt, sondern läuft als „Video“ von Anfang bis Ende durch. Tracklists müssen durch Markierungen in der Timeline erstellt und in der Videobeschreibung platziert werden. Außerdem gibt es da eben das Problem, dass statt eines Videos nur das Cover des Albums auf der Videofläche zu sehen ist. Meist nur das Front-Cover, völlig statisch. Google scheint die Bequemlichkeit in der Nutzung von Youtube als Streamingplattform absichtlich zahlenden User*innen vorzubehalten. Minimiert man auf dem Smartphone oder Tablet die Youtube-App, bricht die Musik ab, sofern man nicht für die Plattform bezahlt.

Mit der Dominanz von Youtube als Medium zur Auswahl und dem Entdecken neuer Musik, vor allem im Bereich des Undergrounds, hat sich auch die Stellung der Cover-Art in der Rezeption von Pop-Musik verschoben. Einflussreiche Pop-Theoretiker wie Diedrich Diederichsen argumentieren seit langem, dass es in der Pop-Musik nur bedingt um Musik geht – stattdessen um ein ästhetisches Gesamtpaket, in das der Look der Musiker*innen ebenso eingeht wie die Performance ihrer Star Persona in Interviews, oder eben das Albumcover und die darauf befindlichen ästhetisch-semiotischen Figuren und Verweise. Mit anderen Worten: The Velvet Underground sind als Gesamtkunstwerk nicht denkbar ohne Existenzialisten-Look mit dunklen Sonnenbrillen und Warhols Banane, Immortal nicht ohne alberne Schminke und Posen in norwegischen Schneelandschaften, Queen nicht ohne Freddy Mercurys Schnauzbart usw. Youtube als primäres Rezeptionsformat führt zu einer Schmälerung der Reibungsfläche zwischen dem Gesamtkunstwerk „Tonträger“ und dem Publikum, die die sich jetzt vollständig auf das Front-Cover verschiebt. Das Front-Cover, das zur Auswahl des jeweils nächsten Albums auf der Playlist dient, wird zum briefmarkengroßen Label eines Sounds und verlangt dabei eine gewisse Deutlichkeit oder Verlässlichkeit in Bezug auf den zu erwartenden musikalischen Inhalt, falls es in der Fluktuation der Algorithmen Bestand haben will.

Diese „Miniaturisierung“ von musikalischen Artefakten ist nicht völlig neu. In Fanzines früherer Pop-Epochen fanden sich auch meist nur kleine Bildchen von Covern, gepaart mit oft kryptischen und/oder polemischen Umschreibungen des dahinter zu erwartenden Sounds. Das ehemals legendäre Punk-Zine Maximum Rocknroll, das seit einigen Jahren nur noch online erscheint, führt diese Tradition des lakonischen, oft nichtssagend-humoristischen Kurzreviews auf seiner Webseite fort. Jedoch gab es im Fall der Fanzines vielfache Verzögerungen, in der phantasmatische Projektionen und Echoprozesse stattfinden konnten: zwischen der Lektüre der Reviews, dem Versuch, herauszufinden, ob das Album „etwas für mich ist“, dem Prozess des Mailorders und dem schließlichen Konsum der Musik.
Auf Youtube hingegen folgt das rasche Scannen des Albumcovers und das anschließende Reinhören Schlag auf Schlag. Albumcover sind zu „Knöpfen“ geworden, die ein musikalisches Geräusch machen, wenn man sie drückt. Wie auf einem Kinderspielzeug passt das Geräusch meistens zu dem Bildchen, das auf dem Knopf abgebildet ist. Die Kuh macht immer Muh. Das Metal-Cover macht immer BRRR.

2017 kam es zur Entstehung einer Serie von Memes innerhalb der Punk-Community auf Youtube und Instagram, die zwei Strömungen im gegenwärtigen Underground-Punk humoristisch gegenüberstellten und diese auf die Namen Egg- bzw. Chain Punk tauften. Die Memes griffen die visuelle Sprache der Cover einiger Bands auf, die in den 10er Jahren über Youtube szeneinterne Bekanntheit erlangt haben. Chain-Punk bedient sich dabei visueller Codes der klassischen Hardcore-Punk Bewegung. Leder, Nieten, Stiefel, Messer, Äxte und andere Waffen zieren die entsprechenden Cover. Die visuelle Sprache ist jedoch im Vergleich zu älteren Hardcore-Punk Bands wie Poison Idea oder Negative Approach verschlankt und stilisiert. Die Bilder nehmen die Qualität von Piktogrammen und naiven, kindlichen Zeichnungen an. Wenig überraschend fällt dieser visuelle Stil zusammen mit dem sich zeitgleich verbreitenden Trend für naive, bewusst amateurhafte Tätowierungen, der in Punk-nahen alternativen Szenen seinen Ausgang nahm und inzwischen das großstädtische Jugendmilieu durchdrungen hat. Egg Punk teilt mit Chain Punk die Vorliebe für das Einfache, Krakelige, Naive, aber er greift diese Attribute auch inhaltlich auf. So finden sich auf den Covern von Egg-Punk-Bands bunte Strichmännchen, fröhliche geometrische Formen, Tiere und eben auch Eier.

Dass die Benennung dieser Sub-Subkulturen in Form von Online-Memes erfolgte, ist eine absolut folgerichtige Entwicklung, denn in gewisser Weise könnte man sagen, dass diese Stile und ihre definierenden Bands sich selbst wie Memes entwickelt und verbreitet haben. Denn wie funktioniert heutzutage die Distribution von Underground-Musik? Bands nehmen Demos auf und stellen sie bei einer Plattform wie Bandcamp oder Soundcloud zur Verfügung. Diese Veröffentlichungen werden dann von Youtube-Kanälen hochgeladen, die sich auf bestimmte Stilrichtungen spezialisieren und diese gleichzeitig durch kuratorische Auswahl in gewisser Weise erst erzeugen. Das klassische Beispiel ist hier der Kanal Jimmy (heute Anti), der mit der Entwicklung des Egg-Punk Genres eng verknüpft ist. So wurden hier die zunächst nur in lokalen Kontexten bekannten EPs und Demos der Bands Coneheads, Urochromes und Beta Boys bekannt gemacht. Entsprechende Kanäle gab es auch für Chain-Punk.

Scrollt man durch die Listen dieser Kuratoren-Profile, fällt die große ästhetische Kohärenz der dort versammelten Releases sofort ins Auge. Die Entwicklung dieser Genres scheint mindestens ebenso sehr über visuelle Formen und Zeichen vonstatten zu gehen wie über akustisch-musikalische Marker. Totenköpfe, Waffen, groteske Fratzen auf der Chain-Punk-Seite; Strichmännchen, Pflanzen und Smileys bei Egg-Punk. Natürlich haben Subkulturen schon immer ihre Bestände von Zeichen und Ästhetiken gepflegt. Früher war es aber eher so, dass einzelne Bands einen wiedererkennbaren Stil hatten und Cover-Stile von Release zu Release stark variieren konnten. Die Chain- und Egg-Punk Cover aber weisen eine Vereinfachung und Verflachung der visuellen Gehalte ihrer Ursprungsgenres auf. Dies spiegelt sich auch im Sound. Chain-Punk entledigt sich der bombastischen Produktion des klassischen Hardcore-Punk und vermittelt Aggression vor allem durch Schnelligkeit, Spieltechnik und Lo-Fi-Sound. Egg-Punk geht dabei noch weiter und verwendet oft unverzerrte Gitarren und nach Spielzeug klingende Synthesizer und Drum-Machines und bietet damit eine Cartoon-Version früherer Punk- und Post-Punk-Gesten. So gesehen ist es wenig überraschend, dass Egg-Punk mit Pringues EP The Age of Cringe (2021) auch schon ein erstes Beispiel für Meme-Punk reinsten Wassers hervorgebracht hat.

Auf diese Weise machen diese Genres für das Internet-Zeitalter manifest, was Dick Hebdige in seiner klassischen Subkultur-Studie schon 1979 feststellte; dass Subkulturen sich primär über Aneignung und Entfremdung sozial zirkulierender Zeichen manifestieren. War dieser Prozess in früheren Pop-Epochen noch sehr stark in materiellen Praktiken der Mode und gemeinsamer Hangouts verwurzelt, hat das Internet das materielle Volumen von Musikszenen radikal verflacht. Es ist heute möglich, Teil einer Subkultur zu sein, ohne je auf andere Vertreter*innen zu treffen. Wie andere, nicht-musikalische Subkulturen, allen voran Game- und Franchise-Fandoms aller Art, tauschen sich Anhänger*innen musikalischer Strömungen vornehmlich über die sozialen Medien aus. Das macht Memes zum natürlichen Ausdruck von Subkulturen in Zeiten des Internets, sowohl was ihre interne Kommunikation betrifft, als auch was die Abgrenzung von anderen angeht. Die Memes, die Chain- und Egg-Punk gegenüberstellen, können als eine Form semiotischer Auto-Analyse dieser Szenen betrachtet werden. Nicht von ungefähr ähnelt diese der Logik des klassischen Strukturalismus: Derselbe semiotische Raum – „Punk“ – wird von den entgegengesetzten Prinzipien düster/fröhlich geteilt und die einzelnen Bands ordnen sich auf einem Spektrum zwischen diesen Polen an. Starterpack-Memes hingegen, die im Internet zuhauf zirkulieren, dienen der Abgrenzung von Szenen und sozialer Milieus gegeneinander, indem oberflächliche visuelle Marker bestimmter sozialer Gruppen identifiziert und spöttisch vorgeführt werden.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Covergestaltung in diesen Szenen vereinfacht und verdeutlicht wird. Wir brauchen kein Back-Cover mehr, das Front-Cover macht schnell und unmissverständlich klar, an welchem stilistischen oder audio-visuellen Meme hier weitergearbeitet wird. In Fall vieler neuerer Bands scheint es, dass direkt mit dem Gedanken an bestimmte Youtube-Kanäle aufgenommen wird, die dann für die Distribution der Musik sorgen. Mit der eigenen Demo oder LP setzen sie die auf dem Kanal vorgefundene Serie ästhetisch verwandter Cover fort und finden so Eingang in eine schwer greifbare, aber international vernetzte Szene.

Diese Angleichung von Innen und Außen, von Cover und Content, hat im Internet einen Namen: Aesthetic. Es gibt sogar ein umfassendes Wiki dafür. Der Begriff „Ästhetik“ wird hier im präzisen Sinn des Grafikdesigns verwendet, meint also ein kohärentes und harmonisches System visueller Elemente wie Schriftarten, Farbpaletten, geometrischer Formen und wiederkehrender dekorativer Elemente. Kennzeichnend für Musikgenres, die sich vornehmlich im Internet entwickelt haben, ist, dass es oft schwer fällt festzustellen, ob sie als Genres und Szenen mit entwickelten musikalischen und sozialen Ausdrucksformen Bestand haben oder ob sie eher der flüchtige akustische Ausdruck einer „Aesthetic“ sind, die sich auch in beliebigen anderen Medien ausdrücken könnte. Das paradigmatische Beispiel dafür ist Vaporwave, das Musikgenre, das Ende der 00er Jahre entstand und aus Bearbeitungen von kommerzieller Musik der 80er und deren steril-futuristischer Aufmachung bestand und mit visuellen Elementen aus Anime- und Cyberpunk verbunden wurde. Heute ist Vaporwave als Ästhetik schon ein Klischee und hat sich völlig von den musikalischen Ausdrucksformen abgelöst, die es einmal transportiert hat – als Instagram-Filter oder Sticker-Set ist es auf Telegram zugänglich und in der Weiterentwicklung „Synthwave“ vielfach in den Mainstream eingesickert.

Diese Reduktion von Szenen und Genres auf oberflächliche Stil-Elemente führt dazu, dass es zu einer viel leichteren Vermischung von Ästhetiken kommen kann. Man nehme zwei absolut unterschiedliche Genres oder Ästhetiken und stelle sich deren Hybrid vor: Mit großer Wahrscheinlichkeit hat es jemand „bereits ausprobiert“. So gibt es Mischungen der prononcierten, scheinbar entgegengesetzten Ästhetiken von Hyperpop und Black Metal oder von Cloud Rap und Dungeon-Synth. Auf das geringe Volumen semiotischer Markierungen zusammengeschrumpft und digital hervorgebracht oder prozessiert sind die Sounds heutiger Internet-Genres instabiler und manipulierbarer als je zuvor. War es in den frühen 1990er Jahren noch verstörend und musikalisch gewagt, Jazz mit Grindcore zu vermischen (siehe: Naked Citys Torture Garden) oder in den 00er Jahren Post-Hardcore mit Progressive Rock (siehe: The Mars Voltas De-Loused in the Comatorium) um nur zwei Beispiele zu nennen, ist eine solche Promiskuität der Stile heute normal, wobei selten tatsächlich musikalische Formen eine Symbiose eingehen und es oft eben bei der Überblendung von Ästhetiken und oberflächlicher akustischer Signale bleibt.

Daraus ergeben sich neue Herausforderungen für den stetigen Distinktionsprozess musikalischer Stile und der sie umfassenden Ästhetiken – besonders auf Youtube. Eine der überraschendsten Entwicklungen war hier fraglos das Aufkommen von Dungeon-Synth als eines der fruchtbarsten Online-Genres der letzten Jahre. Der Hintergrund: In den 90er Jahren wurden Black-Metal-Alben mit sphärischen Intros auf billigen Synthesizern versehen, die die Gitarrenmusik stimmungsvoll umrahmten und dabei eine vage „mittelalterliche“ Atmosphäre verbreiteten. Diese Intros wurde jedoch paradoxerweise mit billigen Keyboards der 80er erzeugt, die eben nicht die organische, analoge Tiefe von Synthesizern aus den 60ern und 70ern aufweisen, sondern im besten Fall nach alter Videospiel-Musik klingen. Dungeon-Synth ist nun ein Musikgenre, das diese Interludes und Intros auf Albumlänge ausdehnt. Dabei sind die Cover von mittelalterlichen Landschaften, Fantasymotiven und schnörkeliger Elfen-Schrift geprägt. Dungeon-Synth gewinnt seinen Reiz gerade aus der Spannung zwischen den flachen und reduzierten Klängen und der fantastisch-mythischen Weite, die durch die romantische Covergestaltung suggeriert wird. Wo Vaporwave versuchte, die eisige Kälte der neoliberalen Welt anhand ihrer akustischen Oberflächen fühlbar zu machen, benutzt Dungeon-Synth die gleiche Technologie, um fantastische Parallelwelten zu beschwören, die wie die Rückkehr des Verdrängten in die entzauberte digitale Gegenwart hineinragen. Dungeon-Synth Cover sind damit mehr als nur Markierungen eines Sounds: Sie versprechen den Hörer*innen einen Ausbruch aus dem Alltag und so etwas wie Reisen in diese imaginären Welten.

Eine andere Methode der Kompensation des Mangels an Dichte und Volumen, die dem ästhetischen Objekt Pop-Album auf Youtube zukommt, ist das Behandeln des Video-Fensters, das das Albumcover zeigt, als tatsächliches Video. Die Musik wird dann mit einer Slideshow von Fotos des physischen Tonträgers oder der Band illustriert. Interessant wird es jedoch bei Videos mit einer Auswahl an Bildern, die die Uploader*innen als „geeignet“ oder zur Musik passend empfinden. Das führt oft zu seltsamen Stock-Image-Slideshows, die auf WG-Partys im Hintergrund über die Bildschirme flimmern, während die Musik läuft. Die Band Black Country, New Road hat dieses Phänomen künstlerisch aufgegriffen, indem sie offizielle Musikvideos als Slideshows zufallsgenerierter Fotos aus den Untiefen der sozialen Medien konzipiert.

Ich erinnere mich genau daran, wie ich 2013 Daft Punks „Get Lucky“ erstmals auf Youtube anhörte und dabei zerstreut auf das Cover der Single im Videofenster starrte. Bei etwa 2 Minuten begannen die Silhouetten von Pharrell Williams, Nile Rodgers und der zwei Roboter-Musiker plötzlich lässig vor dem Hintergrund des glühenden Sonnenuntergangs zu tänzeln. Der Effekt war so minimal wie verblüffend, dass man ihn fast für eine optische Täuschung hätte halten können.

Das animierte Cover ist eine weitere naheliegende und im ersten Moment etwas banal erscheinende Entwicklung des Albumcovers auf Youtube, die jedoch bei näherer Betrachtung erstaunlich weitreichend ist. Entflammte das Cover schon immer die Fantasie der Fans, ist es heute im Internet mehr denn je das visuelle Symbol, das den gesamten Kosmos des musikalischen Werks bündelt und zu dem*der Hörer*in/Betrachter*in zurückwirft. Offenbar hat das einen Wunsch danach hervorgebracht, das Cover „zum Tanzen zu bringen“, denn Youtube ist voll von Uploads, in denen Fans die Cover ihrer Lieblingsalben selbst animieren. Es handelt sich dabei nur um kleine Bewegungen, die aber dem Cover eine Lebendigkeit verleihen, die etwas vom Begehren und der Liebe zurückspiegeln, die Fans in es hineinprojizieren.

Dank an Jonathan von Catch As Catch Can, Nuts, Avatar und Gordon Bleu für zahllose Denkanstöße zu diesem Thema, die man teilweise als Podcast unter „Klaviatur der Kritik“ nachhören kann. Neue Folgen kommen. Irgendwann.

Patrick Kokoszynski hat sechs Jahre seines Lebens damit zugebracht in Heidelberg langweilige alte Philosophen zu studieren, bevor er auf die deutlich bessere Idee kam, in Frankfurt am Main auf Theater-, Film und Medienwissenschaft umzusteigen. Heute gehört er dem subakademischen Prekariat an und arbeitet in Frankfurt als Stagehand. Für die Sprosse schreibt er über kuriose Nischen und Subkulturen des Internets.