Das Elend der Postmoderne

Die deutsche Linke und der Ukraine-Krieg

von Luca Schepers

Poster auf einer Plakatwand mit dem Aufdruck "We found Marx in a hopeless place"

Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war einer dieser geschichtlichen Momente, in denen sich zeigt, auf wessen Seite viele Menschen im Zweifelsfall stehen. Nicht nur gab es die erwartbaren nationalistischen und militaristischen Reaktionen von Konservativen und Rechten, die, so unsäglich sie sind, nicht weiter überraschen, sondern auch aus linken und linksliberalen Kreisen kommen ähnliche Töne.

So schrieb Jakob Augstein, Herausgeber des Freitag, kurz nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verkündet hatte: „Der Westen verlängert mit seinen Waffenlieferungen den Krieg. Sobald unsere Waffen dort zum Einsatz kommen, sind es nicht mehr nur Putins Tote, es sind dann auch unsere.“ (Freitag 09/2022). Die Linken-Vorsitzende Janine Wissler schlug trotz ihrer Entschuldigung für die Fehler ihrer Partei in der Russland-Politik in eine ähnliche Kerbe, als sie kurz nach der Landtagswahl in NRW sagte, dass sie die Befürwortung von Waffenlieferungen emotional nachvollziehen könne, diese aber nicht unterstütze, weil dies zu einer Eskalation führe „wenn Deutschland und andere Nato-Staaten die ukrainische Armee an schwerem Gerät ausbilden und damit selbst Konfliktpartei werden.“ Auch andernorts in Deutschland hört man immer wieder etwas von „voller Solidarität“ mit der Ukraine, die damit anfängt, dass ein Profilbild in den sozialen Netzwerken mit den Nationalfarben der Ukraine geschmückt wird und dann aufhört, wenn die deutsche Wirtschaft bedroht wird. Auf Twitter warnt der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt vor dem Atomkrieg.

Was sich in diesen und vielen anderen Reaktionen aus linken und linksliberalen Kreisen zeigt, ist eine logische Folge der Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre. Die deutsche Linke, die so sehr dabei ist, ihre eigenen Privilegien zu reflektieren, dass sie in guten Teilen vergessen hat, warum es dieses Privilegien überhaupt gibt und dass diese durch die Abschaffung des Kapitalismus auch verschwinden könnten, verliert sich in postmoderner Logik gemischt mit einer Sowjetnostalgie, die mit den realen Verhältnissen in Osteuropa nichts zu tun hat. Deutschland sollte prinzipiell keinem Staat auf der Welt Waffen liefern, aber in dieser absoluten Ausnahmesituation, in der ein faschistischer, imperialistisch agierender Staat ein anderes Land überfällt, ist es ein Hohn und ein Zeichen absoluter Privilegiertheit, dem angegriffenen Staat die Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu verweigern. In einem sehr lesenswerten Bericht der Jungle World von einem Kongress ukrainischer Linker in Lwiw war nachzulesen, dass sogar ukrainische Sozialist*innen und Anarchist*innen keine andere Alternative sehen, als die Ukraine militärisch zu verteidigen und sie sie nicht den Luxus haben, hundertprozentige Pazifisten zu sein (Jungle World 19/2022).

Eine wirklich linke Perspektive muss einen Ausblick darauf geben, wie die herrschenden Verhältnisse verändert werden können und was nach der Überwindung des Kapitalismus kommen wird. Die Reflexion der eigenen Privilegien wird allein dadurch schon ad absurdum geführt, dass sie häufig keine Perspektive beinhaltet, wie diese Klassenunterschiede abgeschafft werden können. Dass es nun noch nicht einmal mit Blick auf den Ukraine-Krieg einigermaßen gelingt, eine vernünftige, internationalistische Position zu entwickeln, die sich sowohl vom Militarismus der bürgerlichen Parteien als auch der Forderung nach der Selbstaufgabe der Ukraine unterscheidet, kann für die weitere Entwicklung der Linken nichts Gutes bedeuten.

Das in Deutschland weit verbreitete Argument, man müsse diesen Krieg mit „Diplomatie“ und „Deeskalation“ beenden, muss den mutigen Linken in der Ukraine wie ein Hohn vorkommen. Es ist aber gleichzeitig auch Ausdruck einer Denkweise in der deutschen Linken, die sich vom Materialismus entfernt hat und nur noch in Diskursen und Abstraktionen denkt. Die Ukrainer*innen sind in der Logik von Wissler, Augstein, Schmitt und co. keine politischen Subjekte, die eine eigenständige Position besitzen und denen die Möglichkeit gegeben werden muss, sich selbst zu verteidigen. Sie sind nur Objekte im geopolitischen Spiel und sollen ihr Leben dafür geben, dass Deutschland ja nicht in diesen Krieg hineingezogen wird. Wer wirklich glaubt, eine Kapitulation der Ukraine würde zu einer friedlichen Lösung des Konflikts führen und nicht zu einer Ausweitung der brutalen Kriegsverbrechen, welche die russische Armee bereits in Syrien verübt hat, der ist entweder naiv oder ignorant gegenüber dem Schicksal ukrainischer Bürger*innen. Das Gerede vom Atomkrieg passt da nur allzu gut in diese Logik: Es ist kein wirklich realistisches Szenario, kann aber als Schreckensgespenst die Schäbigkeit des eigenen Denkens überdecken. Viel wichtiger wäre es, die klugen Vorschläge von anderen Linken zu beachten, die etwa die Beschlagnahmung von russischem Vermögen im Ausland fordern.

Auch die vielen wichtigen und guten antirassistischen Kämpfe der letzten Jahre und Jahrzehnte haben offenkundig nicht dazu geführt, dass Menschen aus Osteuropa nicht als „das Andere“ wahrgenommen werden. Die Ukraine und auch der Balkan bleiben für Deutsche und auch für deutsche Linke ein blinder Fleck. Daher ist der deutsche Blick auf die Ukraine derzeit vor allem nationalistisch geprägt. So sollen die Ukrainer*innen ihr Leben und sich von Russland annektieren lassen, damit Deutschland nicht Gefahr läuft, in den Krieg hineingezogen zu werden oder, Gott bewahre, die Leistung der deutschen Wirtschaft gefährdet wird. Die Schwierigkeit einer linken Position in der aktuellen Lage besteht darin, dass sie die Ukraine mit allen Mitteln vor dem Zugriff eines faschistischen und imperialistischen Staates beschützen muss und gleichzeitig nicht dem hierzulande erneut aufkommenden Militarismus verfallen darf.

Das mangelnde Wissen in Bezug auf osteuropäische Staaten führt auch dazu, dass es vielen Linken unklar zu sein scheint, warum viele dieser Staaten in die NATO wollten oder immer noch wollen. Natürlich ist die NATO bei Weitem kein Friedensbündnis und es gibt genügend Gründe, die Politik der NATO und ihre Existenz zu kritisieren. Aber man sollte sich zumindest bewusst machen, dass eine solche Kritik nur aus der Sicherheit heraus möglich ist, nicht unter der permanenten Bedrohung leben zu müssen, von einem Nachbarstaat überfallen zu werden. Wenn selbst ukrainische Kommunist*innen und Anarchist*innen den Staat, den sie ansonsten ablehnen, verteidigen, sollte eigentlich jedem klar sein, um was es in diesem Krieg geht und welch‘ wohlfeile Position Menschen einnehmen, die sich prinzipiell gegen Waffenlieferungen positionieren.

Selbstverständlich ist es schwer zu ertragen, wenn die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, von vielen Linksliberalen als „heimliche Kanzlerin“ bewundert, laufend den russischen Überfall kritisiert und gleichzeitig dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu jüngst für „die starke deutsch-türkische Partnerschaft“ dankte, während die türkische Armee eine brutalen und völkerrechtswidrigen Krieg gegen Kurd*innen im Nordirak führt, der als „Antiterroroperation“ gegen die kurdische PKK unter ebenso fadenscheinigen Gründen passiert wie der Überfall Russlands auf die Ukraine. Sie steht damit aber geradezu paradigmatisch für eine linksliberale Öffentlichkeit, die sich immer auf der richtigen Seite wähnt und in öffentlichen Statements für Weltoffenheit und Antifaschismus steht, während sie gleichzeitig Abschiebungen durchführt, Handel mit Katar treibt und die türkische Aggression gegen Kurd*innen unterstützt. Von dem Militarismus, den CDU, SPD, FDP, AfD und Grüne nun öffentlich propagieren mal ganz abgesehen. Dieser hat nichts mit der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu tun und ist an vielen Stellen höchst fragwürdig, weil niemand wollen kann, dass Deutschland je wieder eine wirkliche Militärmacht wird.

Vielleicht ist die bitterste Erkenntnis über die deutsche Linke und Linksliberale in den vergangenen Monaten, dass ein Teil des Antirassismus und Antifaschismus, den sich in den letzten Jahren viele zu eigen gemacht haben, dann doch nicht mehr als die Selbstbestätigung war, auf der richtigen Seite zu stehen. So wird im Angesicht der aktuellen Lage besonders deutlich, was die Auflösung des Subjekts und der Meta-Diskurs für katastrophale Folgen haben und wie sehr sie den kapitalistischen und damit imperialistischen Normalzustand erhalten und stützen. Stattdessen benötigt es ein an Marx und dem historischen Materialismus geschultes, internationalistisches Denken, das die realen Verhältnisse betrachtet und versucht, Lösungen für die Realität zu entwickeln. Ohne dieses Denken wird die deutsche Linke weiterhin ihr Dasein als Randerscheinung in der Bundesrepublik führen und sich nur gegenseitig bestätigen, aber keinerlei Veränderung erzielen können.

Luca Schepers lebt in Frankfurt. Er mag eigentlich alle Filme, aber die von Mia Hansen-Løve besonders. Für die Sprosse schreibt er, weil er an die Liebe und das gute Leben glaubt und ihm daher nichts anderes übrig bleibt.