Neverending Stories

Wenn Erzählung über sich hinaus erzählt

von Mirko Muhshoff

Es ist 2007 und es ist der Film Spider-Man 3 (Sam Raimi), der mich zum ersten Mal mit dem Zerfall einer Erzählung konfrontiert, in der ich mich wohl fühle.

Der Kinobesuch ist seit Monaten geplant, wir sitzen auf guten Plätzen, Niklas, Felix, sein Vater und ich. Der erste Akt schließt direkt an den Vorgänger an und deckt sich ganz mit unseren Erwartungen: Tante May gibt einen guten Rat, Willem Dafoe ätzt im Spiegelbild, beste Freunde bekämpfen sich über den Backsteinblöcken von Queens. Durch plötzliche Amnesie lösen sich die zentralen Konflikte in Wohlgefallen auf und der Film – er endet. Nach 20 Minuten. In Wirklichkeit jedoch findet ein schleichender Beleuchtungswechsel statt, das Ensemble wird ausgetauscht, befremdliche Ideen träufeln in die Handlung und Maguire entdeckt immer seltsamere Erdschichten seiner Schauspielkunst.

Irritiert folgen wir einem Film, der ständig mit sich abzuschließen scheint, sich nach jeder Etappe tiefer in sich selbst verläuft, der die Genres und Erzählmodi wechselt wie ein Paar Schuhe. Durch die transformativen Eigenschaften des schwarzen Superheldenkostüms wird Peter Parker schließlich zum peinlichen Aufreißer mit gescheitelten Haaren, der zu James Browns People Get Up And Drive Your Funky Soul über den Bürgersteig tanzt. Passant*innen laufen vorbei und runzeln die Stirn, es bricht mir das Herz, es ist, als hätte ich einen Freund verloren. In diesem Moment beschleicht mich die Angst, dieser Film könne niemals mehr enden, ich wäre ewig im Kinosaal mit diesen Entfremdungen eingesperrt. Denn eine Geschichte, die sich einmal über die strengen Regeln der Heldenreise hinwegsetzt, kann dies auch wieder tun und wieder und wieder, vollkommen willkürlich die Protagonist*innen wechseln, alptraumhaft von Raum zu Raum springen, ohne sich um Zusammenhänge zu bemühen. Ich erhasche einen kurzen, erschreckenden Einblick in die Dunkelheit des Brandlochs, das den anstehenden Rollenwechsel ankündigt, Jahre bevor ich Laura Dern durch David Lynchs Brandlöcher in Inland Empire (2006) wandeln sehe. Es ist das Gefühl des Verlorengehens, der Einsamkeit, aber auch schlicht die Angst vor einem schlechten Kinobesuch.

Niklas‘ und meine Blicke treffen sich im Halbdunkel und ich weiß, wir denken dasselbe: Wie sind wir hierhergekommen? Wieso hört das nicht auf? Was ist mit Spider-Mans Haaren? Doch keiner will es zugeben. Nach einer unverschämt langen Nachtclubszene, in der Peter Parker Gwen Stacey mit einem Pianosolo und Tanzakrobatik zu verführen versucht, findet der Film im symbolgeschwängerten Erlösungstableau erneut ein Ende – das dritte – und beschenkt uns dennoch mit einer halbstündigen Zugabe. Der ikonische Anzug ist zurück, die Frisur wiederhergestellt, wir entspannen uns. Als sich die schwerflüssige Haut von Eddie Brocks Körper löst, flüstert mir Niklas ins Ohr: „Der pure Symbiont“. Ich nicke. Es ist alles gut.
Trotzdem sind wir auf der Fahrt nach Hause schweigsam, wir haben heute die Rückseite des Kinos gesehen, das vergisst man nicht so schnell.

Die filmische Erzählung schafft wie die Konstruktion der eigenen Biografie ihre Bedeutung erst retrospektiv; der Schlusspunkt allein bestimmt den Sinn (oder das Fragezeichen) einer Geschichte. Jetzt hat alles eine innere Ordnung (Roger Willemsen). Umso verstörender ist es, wenn uns diese Erlösung verwehrt bleibt, wenn die Handlung, anstatt an gewohnter Stelle zu halten, ihre Endstation überfährt und in ganz neue Landschaften vordringt.
„Die Figur war nie fünf Jahre alt. Sie wurde in dem Moment geboren, in dem das Licht auf der Bühne anging“ sagt der Drehbuchautor Aaron Sorkin in seiner Masterclass über die Lebensspanne seiner Charaktere. Dasselbe gilt aber auch für deren Tod am Ende einer Geschichte: Möglichst wenig möchten die Zuschauenden eigentlich über das Restleben der Figuren wissen, das auf die Erzählung folgt – auch wenn uns sämtliche Trailer das Gegenteil glauben lassen wollen. Sicher kann ein Sequel oder eine weitere Staffel eine Geschichte bereichern, doch eine Fortsetzung ist immer auch ein fauler Trick: Ein weiteres Kästchen, das um einen Handlungsraum gezogen wird, das filmgewordene „Spielt denselben Song nochmal!“ und konfrontiert uns weniger mit der sinnlosen Unendlichkeit als mit der endlosen Wiederholung geschlossener Erzählrationen. Der niemals endende Epilog hingegen zersetzt die sinngebende Einheit und die Handlung wird diffus und unangenehm real: Drei Minuten lang mag man die piefigen Harry-Potter-Pärchen im Finale der Deathly Hallows (David Yates) aushalten; eine halbe Stunde bedeutungsloser Alltag im Fuchsbau Granger-Weasley wäre jedoch unerträglich. Und trotzdem (oder gerade deswegen) ist ein Blick auf diese seltenen unendlichen Geschichten lohnenswert.

Das Ausufern begegnet uns in verschiedenen Formen: Es kann sich in serielles Erzählen einpassen, wo es – ganz in seinem Element – überhaupt nur über lange Strecken hinweg auszumachen ist, oder wie in Spider-Man 3 als Fehlkonstruktion zusammenklappen, aber auch zur kunstvollen Fremdheitserfahrung werden, wie bei Lynch, Wong oder Almodóvar, die ihren Geschichten am liebsten auf Nebentreppen folgen, sie vorzeitig verwerfen, unverhofft wiederfinden und weit über dramaturgische Limitierungen hinwegtragen. Diese (freiwilligen oder unfreiwilligen) Experimente mit alternativen Erzählformen lassen sich nicht nur in Kinofilmen, Serien oder Literatur wiederfinden, sondern seit Jahren auch auf virtuose Weise in Videospielen.

Auf dem ersten Blick zeigt Yoko Taros NieR:Automata (2017) eine Postapokalypse, wie sie für Spielende oft in gleiche Form gegossen wird: Betongerippe, Wildtiere auf den Straßen, alles grobkörnig und ausgegraut. Androiden kämpfen gegen Außerirdische in Mülleimerform, während die letzten Menschen auf dem Mond auf das Ende des Krieges warten. Hinter der oft bemühten Mensch-Roboter-Philosophie stehen in drei Spieldurchläufen (mit insgesamt 26 Enden) aber vor allem interessante Formfragen:
Was geschieht, wenn man zweimal hintereinander dieselbe Geschichte erzählt? Was sich zuerst nach langweiligem Level-Recycling im zweiten Run anfühlt, vertieft Charaktere und Handlung auf ungeahnte Weise. Es ist nicht nur die Wiederholung längst vergessener Details in der Hintergrunderzählung; die quasi-rituelle Iteration der immergleichen Abläufe skaliert die Erzählung zum Mythos. Aus der Anstrengung, dieselben Aufgaben erneut erledigen zu müssen, erwächst der Drang, die Geschichte dieses Mal auf eine andere, tiefere Art zu verstehen – und es gelingt, weil der Text so reich an Ideen ist.
Der dritte Durchlauf setzt schließlich die Erzählung der ersten beiden fort und fragt: Was geschieht, wenn man eine Geschichte weitererzählt, obwohl sie eigentlich schon zu Ende ist?
Taro verkehrt hier die verträumte Haupthandlung ins komplette Gegenteil und entsendet den traumatisierten Protagonisten 9S auf Rachefeldzug. Das passt gut, denn ein Trauma ist doch genau das: Der Zusammenbruch eines Narrativs, welcher immer wahrscheinlich wird, je länger eine Erzählung über sich hinaus erzählt. Tragödie ist Komödie plus Zeit. Und wenn der Sinn sich nicht mehr herstellen lässt, bleibt nur das Trösten: „Nicht allein zu sterben“ ist in der ausgegrauten Post-Post-Apokalypse die optimistischste Aussicht auf ein Ende.
Immerhin bleibe ja die Möglichkeit des Resets, vermittelt uns der vierte Abspann, und die Hoffnung, dass die Dinge beim nächsten Mal anders laufen – zumindest für Androiden. In der Hinsicht ist NieR:Automata trotz all der humanistischen Ideale ein ziemlich posthumanes Spiel.

Und dann gibt es natürlich noch Games wie Death Stranding (2019), die in japanischer Videospiel-Tradition die Begriffe der Exposition und Lösung maximal auszureizen wissen und dazwischen eigentlich keinen Mittelteil dulden. So beginnt Hideo Kojimas Postboten-Epos mit einem ungefähr zehn-stündigen Tutorial, in dem unser Held Sam Strand kaum drei Schritte durch die Einöde gehen kann, ohne über Funk von Wissenschaftler*innen über die komplizierte Funktionsweise der Welt aufgeklärt zu werden (dass es sich dabei um ein absurd zusammengecastetes Ensemble von Nicolas Winding Refn über Guillermo del Toro bis hin zu Conan O’Brien handelt, entschädigt ein wenig).
Und gerade wenn Death Stranding glauben macht, die kaum verständliche Handlung habe sich von ihrer Exposition emanzipiert, kündigt sich der letzte Akt kilometerweit an, präsentiert erst den obligatorischen Bosstitan, dann einen kleinen, persönlichen Faustkampf, ein Schussgefecht im Vietnam-Set, einen weiteren Riesenboss in Form eines Wals, endlose Dialoge an einem monochromen Strand, den Abspann, Cut-Scenes in Spielfilmlänge, eine weitere Mission, einen weiteren Abspann, eine letzte Cut-Scene, einen letzten Abspann und den wirklich allerletzten Level Tomorrow is in your hands, der kurz vor den Ereignissen des großen Finales stattfindet und unendlich lang gespielt werden darf.

So ist es oft im Videospiel: Den Ausstiegspunkt müssen die Spielenden selbst wählen, Vieles lässt sich komplettieren, doch manche Level sind für die Ewigkeit; immer wieder neu aufploppende Missionssymbole, dieselben Abschnitte anders arrangiert, ein spielerischer „Monsterball“, auf dem sich jahrelang herumlutschen lässt, auch wenn der Geschmack zunehmend fad wird. Für Bibliothekar*innen, die das fertige Spielerlebnis in ihr Regal einsortieren möchten, ist der Zustand unerträglich und in keinem anderen Medium denkbar, von der nie endenden Soap-Opera vielleicht abgesehen.
Erst wenn jeder NPC seinen Monolog zweimal aufsagte, wird uns klar: Wir sind hier allein. Und da ist sie wieder, die Einsamkeit im endlosen Epilog.

„Die Antwort ist keine Erzählung“ heißt es bei Harari auf die Frage nach der Wahrheit, dem Universum und der eigenen Identität. Es kann bereichern, ab und an einer Geschichte zu folgen, die uns mit Absicht oder stümperhaft an die Künstlichkeit der großen Erzählungen erinnert und die Frage stellt: Was passiert nach dem Abspann? Und was davor? Und wie viel Sinn bleibt am Ende noch ohne Ende übrig?

Mirko Muhshoff ist Filmschaffender und Moderator aus Leipzig. Das Kino ist der einzige Ort, der ihn zwei Stunden am Stück schweigen lässt. Für die Sprosse schreibt er, weil man oft nicht weiß, was man weiß, bevor man’s aufschreibt.